Tessin im Frühling

 

Während es in unseren Breitengraden Mitte April noch empfindlich kalt sein kann, grünt und blüht es schon im Tessin, dem südlichsten Schweizer Kanton. Das müssen wir ausnützen und dort einige sonnige Tage verbringen. Folgen Sie mir also am 14. April 2o1o auf eine fünftägige gemütliche Kulturreise in diese sonnenverwöhnte Gegend, wobei wir am dritten Reisetag am Langensee (ital.: Lago Maggiore) den italienischen Regionen Piemont und Lombardei einen Besuch abstatten, also noch weiter in den Süden mit seiner subtropischen Vegetation vorstoßen.
 


 

Früh am Morgen brechen wir in Innsbruck auf, um schon auf der Strecke in den Süden alle unsere Vorhaben ohne Hast und Eile verwirklichen zu können. Dabei baue ich im Kanton Graubünden, dem flächenmäßig größten Kanton der Eidgenossenschaft, zwei völlig unterschiedliche Erlebnisse ein. In der ‚Via Mala’, dem ‚Bösen Weg’ - die Schlucht hat der Hinterrhein in das Gestein gefressen -, blicken wir hunderte Meter die steilen Felswände empor und fast soweit hinab zu dem zu dieser Jahreszeit nur wenig Wasser führenden Fluß. Vor gut 2oo Jahren hat der englische Maler John Murray die ‚Via Mala’ als den ‚erhabensten und gewaltigsten Hohlweg der Schweiz’ beschrieben. Von der Richtigkeit der Schilderung können wir uns überzeugen, da wir in diesem Bereich nicht auf der Nationalstraße, wie die Autobahn in der Schweiz heißt, dem Süden zustreben sondern der alten Straße folgen und den Blick vom Kiosk am Parkplatz genießen. Wir können auch die Hochwassermarken erkennen und nachempfinden, welche Naturgewalten hier gewirkt haben und fallweise immer noch wirken.
 


 

Nach diesem ‚Erlebnis Natur’ dann nur kurze Zeit später ein für jeden an der Kunstgeschichte Interessierten ein einmaliges ‚Erlebnis Kultur’. Wir stehen unter der ältesten erhaltenen Temperamalerei des gesamten Abendlandes! Wie das? Wir besuchen in Zillis die äußerlich fast schmucklose reformierte Kirche St. Martin mit ihrer romanischen Kassettendecke. Im wahrsten Sinne des Wortes kann ich die 153 Felder dieser Kassettendecke nahe bringen. Ohne Genickstarre zu bekommen können wir nämlich mit bereitliegenden Spiegeln alle Felder betrachten. Im Innenteil wird einerseits szenisch das Leben Christi geschildert, wobei die Darstellungen aber mit der Dornenkrönung abrechen, andererseits finden wir Szenen aus dem Leben des hl. Martin. Gerahmt werden die beiden Zyklen von den Boten der Apokalypse: Im Wasser lebende Fabelwesen und in den Eckfeldern Engel als Verkörperung der vier Winde. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß wir natürlich über diese Kirche im allgemeinen und über das Wesen der Temperamalerei im besonderen sprechen – so wie wir auch auf dieser Reise zwanglos über alle uns interessierenden Themen plaudern können.
 


 


 

Weiter geht die Fahrt durch eine von schneebedeckten Dreitausendern geprägte Landschaft bis zum San-Bernardino-Tunnel, durch den wir fahren müssen, da uns die Fahrt über den Paß mit unserem großen Bus verwehrt ist. Nach dem Tunnel, in dem wir mit 1644 Metern die höchste Höhe am Anreisetag erreichen, führt die Straße im Misoxer Tal, dem Val Mesolcina, in gewaltigen kühn angelegten Kehren steil bergab. Links und rechts begleiten uns mit Schieferplatten gedeckte Blockspeicher und Ställe.

Hauptort des Misoxer Tales, in dem die katholische Bevölkerung italienisch spricht (wir sind aber noch im Kanton Graubünden!) ist Misox/Mesocco. Unterhalb dieses Dorfes die Ruine der einst größten Talfestung der Schweiz, die Burgruine ‚Castello di Mesocco‘. In das Vorwerk der Burg, an der ab dem 11. Jahrhundert gebaut und die von den Bündnern im Jahre 1526 selbst zerstört worden ist, ist die Kirche ‚Santa Maria del Castello‘ einbezogen, deren sechsgeschoßiger romanischer Turm sowie das Kirchenschiff mit der Ausmalung um 146o (Passionsszene, Heiligendarstellungen, Monatsbilder) gut erhalten sind, während die Kirche ‚San Carpoforo‘ unmittelbar neben dem Kastell nur noch als Ruine besteht.
 


 

Auf der Nationalstraße geht es - lediglich unterbrochen durch die Mittagspause in Bellinzona, der Hauptstadt des Tessin - flott zum Luganer See weiter. Nach dem letzten Tunnel ein unvergeßlicher Anblick: Wir genießen den ersten Blick über das in die Bergwelt eingebettete tiefblaue Wasser des Sees! Aber gleich dann erleben wir ‚die ganze Schweiz’. Wir besuchen nämlich in Melide Swissminiatur, die Eidgenossenschaft in all ihrer Schönheit, aber in 25facher Verkleinerung. Die gewaltigen Ausmaße des Bundeshauses in Bern kommen trotzdem noch zur Geltung. Im Jahre 2oo9 ist das ‚Heidiland’ zu den mehr als 12o Objekten dazugekommen.
 


 


 

In Swissminiatur sehen wir erst, wie schön unser Nachbarland ist und was es an Natur und von Menschenhand Geschaffenem zu bieten hat. Stundenlang könnten wir bleiben, doch wir müssen zu dem mir bereits seit Jahren bekannten Hotel im vornehmen Luganer Vorort Paradiso fahren, wobei ich die Straße entlang des Seeufers wähle. Das kristallklare Wasser des Sees und die südliche Vegetation unter blauem Himmel lassen Vorfreude auf die nächsten Tage aufkommen.
 


 

Nach dem Zimmerbezug können wir uns im hoteleigenen Hallenbad erfrischen, auf der nahen Strandpromenade ins Zentrum Luganos bummeln oder aber die Stadt ohne jegliche Anstrengung kennen lernen. Nahe unserem Hotel befindet sich nämlich die Haltestelle des ‚Treno Turistico’. Das Abendessen im Hotel vereint uns dann alle wieder.
 


 


 

Den zweiten Reisetag gehen wir ganz gemütlich an. Wozu liegt denn unser Hotel nur einige Meter von der Talstation der Standseilbahn auf den Monte San Salvatore entfernt? So bietet sich eine Auffahrt auf diesen Hausberg Luganos geradezu an. Von der Aussichtsplattform auf der Spitze genießen wir einen phantastischen Panoramablick - Melide mit Swissminiatur im Süden ist uns bereits wohlbekannt.
 


 

Am Nachmittag wollen wir eine Schiffahrt auf dem Luganer See machen. Über Gandria steuern wir das ehemalige Schweizer Zollhaus an - direkt an der Grenze zu Italien gelegen -, in dem nunmehr das Schweizer Zoll-Museum untergebracht ist. Lernen wir, wie seinerzeit geschmuggelt worden ist, informieren wir uns aber auch, wie die Schweiz ihre Grenzen schützt.
 


 


 

Vor dem Abendessen ist auch heute wieder Freizeit angesagt, Möglichkeiten zur Unterhaltung gibt es genug. Vielleicht noch einmal ein romantischer Spaziergang auf der Uferpromenade mit Blick zum Monte Brè, dem anderen Hausberg Luganos?
 


 

Am dritten Reisetag verlassen wir die Schweiz vorübergehend und fahren nach Italien. Es geht rund um die Nordspitze des Langensees und dann an dessen Westufer entlang bis Stresa. Während der ganzen Fahrt können wir uns am Anblick der weiten Wasserflächen gar nicht genug satt sehen, dann wieder führt die Straße zwischen blühenden Sträuchern und südlichem Gehölz hindurch. Wir fühlen direkt, wie die Flora des Südens uns in ihre Arme nimmt. Einmal kommen drei kleine Inseln mit geheimnisumwobenen Ruinen in Sicht: Auf den Castelli di Malpaga haben im 15. Jahrhundert Piraten gehaust, deren Schloß geschleift worden ist.
 


 

In Stresa tauschen wir den festen Boden gegen das Seewasser, wir steigen um von unserem Bus in ein Motorboot. Mit unseren Farben rot-weiß-rot am Bug und unserer Hymne geht es in rascher Fahrt zur Isola Bella (die ‚Schöne Insel’ wird auch Isola Inferiore genannt), der Hauptinsel der Borromäischen Inseln. Dort erwartet uns ein Führer, der uns im üppig ausgestatteten Schloß die Säle und Grotten nahebringt sowie uns über Geschichte und Gegenwart informiert. Die Führung endet im Gobelingang, wo wir in Hochachtung vor der jahrelangen Arbeit der fleißigen Weberinnen fast sprachlos sind.
 


 

Den vielleicht noch stärkeren Eindruck als das Schloß hinterläßt aber der anschließende Park, dessen Anlage in mehreren Terrassen ein Wunder barocker Gestaltungsfreude darstellt. Hier wird die Natur gemäß der Manier dieser Zeit zum Gesamtkunstwerk: Die Grünflächen mit hoheitsvoll stolzierenden weißen Pfauen werden von Blumenrabatten, südländischen Bäumen und Ziersträuchern eingefaßt, kleine barocke Prachtbauten sowie Statuen erfreuen das Auge. Die barocke Welt stimmt einfach heiter und läßt uns fast vergessen, daß wir ja zum Mittagessen in einem Restaurant direkt am Ufer der Fischerinsel, der Isola dei Pescatori, erwartet werden. ‚Unser’ Motorboot bringt uns zu dieser ganz nahen Insel.
 


 


 

Nach dem gemütlichen Aufenthalt auf der Fischerinsel fahren wir zur vereinbarten Zeit wieder zurück nach Stresa, wo an der Anlegestelle schon unser Bus auf uns wartet. Wer kann sich vorstellen, nach kurzer Fahrzeit dann im Inneren einer Statue hochzuklettern und aus deren Kopf herauszuschauen? Ja, gibt es denn das? Natürlich; wir brauchen nicht weit dem Seeufer entlang nach Süden zu fahren, dieser Traum wird Wirklichkeit! In Arona steht nämlich die Kolossalstatue des hl. Karl Borromeus. Für sportlich Geübte stellt es keine Schwierigkeit dar, die steile Treppe im Inneren der Statue hinaufzuklettern und dann - knapp 35 m über Grund - herauszuschauen, wobei der Blick über den See bis zum ostseitigen Ufer Richtung Angera schweift. Ein unvergeßliches und sicherlich einmaliges Erlebnis! Wer aber nicht im Inneren der Statue hochklettern will, kann auch so über den See blicken.
 


 


 

Weiter geht die Fahrt, nunmehr um die Südspitze des Sees herum, um auf der ostseitigen Straße, die teilweise am Ufer verläuft, wieder nach Norden zu fahren. Wieder ergeben sich wunderbare Ausblicke auf und über den See. Zum Abendessen sind wir nach diesem so abwechslungsreichen Tag wieder in unserem Hotel und rätseln, was der vierte Reisetag an Schönem bringen wird - wenn schon keine Steigerung mehr möglich ist, dann doch ein anderes Erlebnis!

Das eiskalte Grün des Wassers - ‚verde acqua’ - hat dem Tal seinen Namen gegeben: Verzasca. Mit seinen extrem steilen Hängen und ungezählten Kaskaden bietet es weniger ein liebliches sondern mehr ein gewaltiges Naturerlebnis. Von der Ortschaft Gordola nahe Locarno führt die 25 km lange kurvenreiche Straße - nur vorerst steil ansteigend - bis zum Talschluß bei Sonogno. Dort fahren wir am vierten Reisetag hin!  

Schon bald nach der Einfahrt in das Tal kommt die gewaltige Mauer des Stausees von Vogorno in Sicht. 38o m ist sie lang und 22o m hoch, eine der höchsten in Europa. Freunde der James-Bond-Filme kennen sie als einen der Schauplätze in ‚Golden Eye’. Für Bungee-Jumping haben wir allerdings keine Zeit.
 


 


 

Weiter geht es das dünn besiedelte Tal, das etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von der Außenwelt fast abgeschnitten gewesen ist, aufwärts. Doch dann müssen wir unbedingt einen längeren Aufenthalt einlegen. Auf der ganzen Strecke fällt uns schon das smaragdgrüne gischtende Bergwasser auf, in Lavertezzo können wir die seinerzeit vom Eis und dann vom Wasser rundgeschliffenen Gneisfelsen ganz aus der Nähe bewundern. Den Fluß quert, in der Mitte auf einem Felsen ruhend, eine zweibogige mittelalterliche Steinbrücke, der ‚Ponte dei Salti’ – für jeden Photographen ein ‚Pflichttermin’.
 


 

Stundenlang könnten wir dort verweilen, doch wir wollen auf der Weiterfahrt auch noch etwas in die ‚Kunstgeschichte’ eintauchen. In Brione stoßen wir auf das Kleinod des Tales, die Fresken in der Pfarrkirche Santa Maria Assunta. Ein uns namentlich nicht bekannter Maler hat im Stile Giottos einen Christus-Zyklus freskiert, der in einigen Teilen noch recht gut erhalten ist. Den Turm dieser Kirche sehen wir übrigens als Eingangsbild.
 


 

Weiter geht die Fahrt bis Sonogno, früher weltabgeschieden, heute - vor allem in den Sommermonaten - von Fremden überflutet. Zu Recht wird dieses hübsche Tessiner Dorf mit seinen in Stein und Holz errichteten Häusern, die ein geschlossenes Ortsbild ergeben, gerne aufgesucht. Heute leben in ihm nur etwa einhundert Einwohner. Hier können wir in bester Höhenluft (über 9oo m ü.d.M.) die Mittagszeit verbringen.
 


 

Da wir im Staat der Schokoladenerzeugung sind, wollen wir uns am Rückweg nach Lugano noch in Caslano durch eine Schokoladefabrik führen lassen - für die Süßspechte gibt es natürlich Kostproben. Im angeschlossenen Museum wird die Geschichte der Schokoladeerzeugung dargestellt, wobei es als ganz selbstverständlich erscheint, daß auch Wilhelm Tell dabei ‚vermarktet’ wird. Trotz des Schokoladegenusses wollen wir uns aber das Abendessen in unserem Hotel gut schmecken lassen - es ist das letzte auf dieser Reise, denn am folgenden Morgen heißt es dann Abschied nehmen von Lugano.
 


 


 

Am Rückreisetag kommen wir wieder auf italienisches Staatsgebiet. Vorerst bleiben wir aber noch im Tessin, wir nehmen auf der Fahrt durch Lugano Abschied von dieser uns so vertraut gewordenen Stadt. Hoch über dem Nordufer des Luganer Sees lassen wir Gandria, uns von der Schiffahrt her bekannt, unter uns und verlassen bald einmal die Schweiz. Das restliche Nordufer des Luganer Sees sowie das Westufer des Comer Sees bieten wieder eindrucksvolle landschaftliche Erlebnisse. Nahe Colico besuchen wir die Abtei von Piona, in stiller Einsamkeit angelegt auf einer in den Comer See ragenden Halbinsel. Die beeindruckende Lage ist genauso einen Besuch wert wie der Kreuzgang oder die Klosterkirche mit ihren Fresken. Von früheren Aufenthalten her ist mir als Mitbringsel der ausgezeichnete Klosterlikör noch in guter Erinnerung.

Jetzt fahren wir das Tal der Adda aufwärts bis in die Gegend von Tirano, wo wir letztmalig auf dieser Reise auf Schweizer Gebiet überwechseln. Durch das Puschlav, eine landschaftlich immer schöner werdende Gegend, geht es - begleitet von der Berninabahn - talaufwärts weiter bis zum Berninapaß in 2328 m Höhe. Wir erreichen damit die höchste Höhe während der ganzen Reise! Nahe dem Weißen See, dem ‚Lago Bianco’, kommt der grandiose Piz Bernina in Sicht - sein Gipfel ragt 4o49 Meter empor.
 


 

Die Wasserscheide ist überquert, wir fahren das Berninatal abwärts bis in die Gegend von St. Moritz. Durch Oberengadin und Unterengadin begleitet uns der Inn, wobei wir das Inntal - abgesehen von der Umfahrung Landeck - nicht mehr verlassen. Die eindrucksvolle Reise endet an ihrem Ausgangspunkt in Innsbruck - die Erinnerung an unvergleichlich schöne Landschaften und besondere kulturelle Erlebnisse bleibt aber bestehen.